
19. Dezember: Sieg um jeden Preis
Ein Uhu rief im Wald zu einem Gesangswettbewerb auf. Dieser wurde in kürzester Zeit organisiert, und vom Stieglitz bis zum Nashorn meldeten sich alle Tiere dafür an. Sie stiegen der Reihe nach aufs Podium und sangen inbrünstig vor dem anwesenden Publikum. Dann kam der Moment der Auszählung, denn jedes Tier konnte seinen Favoriten auf einen Zettel schreiben und diesen in eine Urne werfen. Flankiert von zwei Affen verlas der Uhu den ersten Namen: „Die erste Stimme ergeht an… den Esel!“ Nach einem längeren Schweigen kam zögerlicher Beifall. „Die zweite Stimme… der Esel!“ „Dritte Stimme: Esel!“ Langsam machte sich Unruhe breit. Alle Anwesenden wussten, dass es kaum etwas Schrecklicheres anzuhören gab als das Eselsgeschrei. Und so geschah es, dass der Esel zur „besten Stimme im Wald und auf weiter Flur“ gekürt wurde. Der Uhu hatte durchschaut, wie es dazu gekommen war: Jedes teilnehmende Tier hatte sich selbst für den Sieger des Wettbewerbs gehalten und seine Stimme demjenigen gegeben, von dem die geringste Gefahr ausging. Nur zwei Stimmen gingen nicht an den Esel: seine eigene, denn er hatte aufrichtig für die Lerche gestimmt, und die des Menschen, der – wie könnte es anders sein – sich selbst gewählt hatte.
Nach Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte